13.06.2022

Vision Zero – Jedes Unfallopfer ist eines zu viel

Das Ziel Vision Zero – also null Verkehrstote – muss ein zentraler Bestandteil der Verkehrswende sein. Zuletzt gingen die Unfallzahlen bundesweit zurück. Doch Experten sehen darin keinen echten Trend – und fordern mehr Anstrengungen für die Verkehrssicherheit. Wir zeigen aktuelle Herausforderungen und Lösungsansätze.

Ein zentraler Baustein der Verkehrssicherheit ist für den ACE die Vision Zero – null Verkehrstote im Straßenverkehr. Davon sind wir noch deutlich entfernt. Autofahrende kommen bei Unfällen regelmäßig ums Leben oder werden schwer verletzt. Zwar werden Neuwagen durch strenge Crashtest-Standards und moderne Assistenzsysteme immer sicherer. Doch kann die Technik nicht alle tödlichen Unfälle verhindern. Häufige Ursache ist und bleibt menschliches Versagen.

Weitreichende Ansätze sind erforderlich

Um den Schutz aller Verkehrsteilnehmenden zu fördern, sind weitreichende Ansätze erforderlich. „Das Ziel von Vision Zero muss im Rahmen der Fahrzeugtechnik, der Infrastruktur und des Straßenbaus, bei der Gesetzgebung und der Verkehrsüberwachung sowie im Bereich der Mobilitätsbildung mit konkreten Maßnahmen erreicht werden“, sagt Kerstin Hurek, Leiterin Verkehrspolitik beim ACE. „Übergreifend gedacht, kann die Anzahl der im Straßenverkehr Getöteten und Verletzten weiter gesenkt werden.“

Unfallzahlen gaben zuletzt Hoffnung

In Deutschland sank die Zahl der verunglückten Personen 2021 auf den niedrigsten Stand seit 30 Jahren. Bundesweit gab es mit 2569 Toten im Straßenverkehr einen historischen Tiefstand. Zum Vergleich: Im Jahr 2000 waren es noch etwa drei Mal so viele Verkehrstote. „Das ist erst einmal erfreulich, aber kein Trend, auf dem wir uns ausruhen könnten“, sagt der Unfallforscher Siegfried Brockmann.

Eine Grafik des Statistischen Bundesamtes (pdf) zeigt die Entwicklung seit 1953.

Weniger Verkehrsaufkommen durch Corona-Beschränkungen

Denn: Der Hauptgrund für den Rückgang der Unfallzahlen, da sind sich die Experten einig, war die Corona-Pandemie. Durch Kontaktbeschränkungen und Homeoffice gab es zeitweise einfach viel weniger Verkehr auf den Straßen. Inzwischen sind die meisten Corona-Auflagen aufgehoben, was sich auch in einem erhöhten Verkehrsaufkommen zeigt. „2022 gehen die Unfallzahlen wieder nach oben“, prophezeit Siegfried Brockmann.

Angestrebte Verkehrswende birgt neue Gefahren

Beispiel Fahrradverkehr: Der hat deutlich zugenommen. Über 80 Prozent der Deutschen nutzen das Fahrrad. Doch die Infrastruktur
kann nicht so schnell umgebaut werden, wie es der Trend zum Zweirad erfordern würde. Gerade im Großstadtverkehr fehlt es oft an geschützten und ausreichend breiten Radwegen, die Straße bleibt als einziger Ausweg. Das birgt Gefahren. „Hauptunfallgegner für Fahrradfahrende sind nicht andere Fahrräder, sondern Autos“, so Unfallforscher Brockmann.

Straßenraum für Radfahrende sicherer gestalten

An Kreuzungen verunglücken Radfahrende besonders häufig und schwer, wenn sie von rechtsabbiegenden Fahrzeugen übersehen werden. Helfen würden geschützte Kreuzungen nach niederländischem Vorbild – hier wird der Auto- und Radverkehr durch Schutzinseln räumlich voneinander getrennt – oder baulich getrennte Radwege, auf denen Räder Kreuzungen erreichen können, wie sie der ACE fordert.

Übereilte Pop-up-Radwege

Als Zwischenlösung richtete der Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg temporäre Radstreifen ein. Pop-up-Bikelanes bieten  kurzfristig mehr Platz zum Radeln, andere Großstädte wie München oder Hamburg folgten dem Beispiel.

Doch wie anfällig übereilte Lösungen sein können, zeigen mehrere Unfälle. Eine 37-Jährige beispielsweise verunglückte vergangenes Jahr etwa 20 Meter hinter der Stelle, wo der Pop-up-Radweg vom Gehweg plötzlich auf die Straße schwenkte. Hier musste die Radfahrerin einem haltenden Lieferwagen ausweichen. „Für den Fahrer des Sattelzugs kam die Frau praktisch aus dem Nichts“, sagt Unfallforscher Siegfried Brockmann und wirft den Behörden Planungsversagen vor.

Maßnahmen auf dem Weg zu Vision Zero müssen also gut durchdacht sein. Es ist nicht nur Tatkraft, sondern auch Nachhaltigkeit gefragt. Manche Instrumente sind schnell umgesetzt, andere brauchen mehr Planungszeit.

Höhere Bußgelder bei Verstößen auf Bundes- und Landstraßen

Auch auf Bundes- und Landstraßen, wo Baumunfälle und riskante Überholmanöver besonders häufig zu schwersten Unfallfolgen führen, besteht Handlungsbedarf. Ursache dieser Unfälle ist häufig der Verstoß gegen bereits bestehende Regeln.

Eine Maßnahme, die dem entgegenwirkt und leicht umzusetzen wäre, ist ein erhöhtes Bußgeld. Wer bei sicherheitsrelevanten Vergehen, also Tempo-, Abstands- oder Überholverstößen, spürbar mehr zahlen muss, überlegt es sich zweimal, ob er 150 auf der Landstraße fährt. Ein probates Mittel, um die Zahl der im Straßenverkehr Getöteten und Verletzten zu senken.

Verständnis für Kontrollen und Konsequenzen schaffen

Dazu zählt aber auch das Verständnis für die entsprechenden Maßnahmen. Scheinbar wahllos bestimmte Geschwindigkeitsbegrenzungen werden als Gängelung wahrgenommen und eher ignoriert. Wichtig ist hier, eine verständliche und  nachvollziehbare Praxis zu entwickeln. Wer den Grund der Begrenzung versteht, ist eher gewillt, sie zu befolgen. Gleichzeitig müssen die Maßnahmen auch kontrolliert werden. Das Personal für Verkehrsüberwachung, Kontrollen und Sanktionen muss dazu deutlich aufgestockt werden.

Digitalisierung für mehr Verkehrssicherheit

Dazu sollten digitale Lösungen Anwendung finden. Mit einer digitalen Parkraumüberwachung beispielsweise ist mehr Kontrolle möglich, ohne mehr Personal einstellen zu müssen.

Intelligentes Management von Verkehrsflüssen und die verstärkte Vernetzung zwischen Verkehrssystemen und -teilnehmenden kann die Verkehrssicherheit zusätzlich erheblich verbessern. Dazu zählen zum Beispiel intelligente Ampeln, die den Verkehrsfluss beschleunigen, da sie situationsbedingt reagieren.

Weniger Unfälle durch "Section Control"

Wird durch das neue Verfahren „Section Control“ die Geschwindigkeit nicht punktuell, sondern auf ganzen Straßenabschnitten überwacht, gehen Unfallzahlen Untersuchungen zufolge zurück. In Niedersachsen gab es dazu 2018 bereits einen Modellversuch. Eine Ausweitung von Section Control auf geeigneten Strecken der Autobahnen und Bundestraßen wäre ein wichtiger Schritt in Richtung Vision Zero.

Vorbeugende Maßnahmen

Besonders gefährdet auf Bundes- und Landstraßen sind Motorradfahrende. Entschärfte Leitplanken und flexible Tafeln aus Kunststoff würden diese schützen.

Nicht immer ist aber der Mensch der Schuldige. Wenn in der Dämmerung ein Reh aus dem Wald über die Straße springt, kann auch eine defensive Fahrweise nicht immer einen Aufprall verhindern. Hier ist Vorsorgen gefragt.

Geeignete Maßnahmen zur Vermeidung von Wildunfällen verbessern die Verkehrssicherheit auf Bundes- und Landesstraßen erheblich.

Manchmal hilft eine einfache Lösung

Selbst Infrastrukturmaßnahmen für mehr Verkehrssicherheit sind nicht zwangsläufig kompliziert und kostenaufwendig. „An den bekannten Unfallhäufungsstellen hilft manchmal schon eine einfache Maßnahme wie eine getrennte Ampelschaltung, um Menschen, die zu Fuß oder auf dem Rad unterwegs sind, das Leben zu retten“, sagt der Präsident des Deutschen Verkehrssicherheitsrats (DVR), Prof. Dr. Walter Eichendorf.

„Und von der Bundesregierung erwarten wir, dass jetzt mit Nachdruck an der Fußverkehrsstrategie gearbeitet wird, die im Koalitionsvertrag angekündigt ist.“ Zu den Infrastrukturmaßnahmen gehört der Ausbau von Radwegen und Umbau von gefährlichen Kreuzungen. Kreisverkehren sollten vor Ampelanlagen der Vorzug gegeben werden, weil sie sicherer und übersichtlicher sind.

Ein wichtiges Signal wären zudem einheitliche Promillegrenzen beim Alkoholkonsum. Dazu zählt, die Grenze zur absoluten Fahruntüchtigkeit von 1,1 Promille für Radfahrende einzuführen. Für Autos ist auch der gesetzlich vorgeschriebene Einbau von Alkolocks eine sinnvolle Maßnahme. Diese Geräte koppeln einen Alkoholmesser mit einer Wegfahrsperre, so dass Menschen unter Alkoholeinfluss nicht losfahren können.

Das Potenzial der Assistenzsystemtechnik sollten die Hersteller voll ausschöpfen, fordert der ACE. „Dabei können wir uns nicht auf den Innovationen der Fahrzeugtechnik ausruhen, auch wenn Notbrems- sowie Spurhalteassistenten oder Müdigkeitswarner echte Lebensretter sind“, mahnt DVR-Präsident Eichendorf. Letztlich sei jeder verantwortlich für sichere Mobilität, nicht nur Politik und Behörden. „Gegenseitige Rücksicht lässt sich durch nichts ersetzen.“

Positives Verhalten stärken

Zum Tag der Verkehrssicherheit am 18. Juni sagte der DVR daher „Danke! #VisionZeroHero“. Mit der Kampagne soll positives Verhalten im Straßenverkehr in den Mittelpunkt gerückt werden. „Wir danken allen Menschen, die sich jeden Tag an die Verkehrsregeln halten“, erklärt der DVR. Im Alltag machen die Millionen „VisionZeroHeroes“ den Straßenverkehr ein Stück sicherer: „Sie unterstützen das Ziel der Vision Zero: keine Getöteten und Schwerverletzten im Straßenverkehr.“

Verkehrswende geht uns alle an

Die Verkehrswende ist ein gesamtgesellschaftliches Großprojekt, aber es setzt sich aus vielen kleinen Puzzleteilen zusammen. Die Anstrengungen, die Politik und Wirtschaft zum Vollenden dieses Verkehrswende-Puzzles unternehmen müssen, sind immens.

Politik und Wirtschaft stemmen die Verkehrswende nicht allein

Doch allein werden diese Akteure die Ziele der Verkehrswende nicht erreichen. „Notwendig ist das Umdenken jedes Einzelnen“, betont
Kerstin Hurek. Wichtig sei, keine noch so kleine Maßnahme für mehr Verkehrssicherheit wegzulassen: Denn auch sie kann relevant für das große Ganze sein. Tiefstände bei den Unfallzahlen dürften kein Automatismus sein, meint auch DVR-Präsident Eichendorf: „Getötete sind nicht hinnehmbar. Ein Rückgang ist daher die einzig akzeptable Entwicklung.“

Dass die Vision Zero keine unerreichbare Utopie ist, sondern ein realistisches Ziel, zeigen Städte wie Göteborg, Aachen oder Salzburg. Hier wurde mindestens ein Jahr lang keine einzige Person innerorts im Straßenverkehr getötet.