27.03.2024

Hupen, Drängeln, Rasen – Aggressivität im Straßenverkehr

Im deutschen Straßenverkehr geht es deutlich aggressiver zu als vor einigen Jahren. Das zeigt eine aktuelle Umfrage von Unfallforschern. Stress durch hohe Verkehrsdichte könnte eine Ursache sein.

Im Stau stehen die die wenigsten gerne, manche verlieren dabei die Nerven. So wie in Jever in Niedersachsen, wo zwei ungeduldige Autofahrerinnen im vergangenen Sommer aneinander gerieten. Bei dichtem Auffahren und Hupkonzert blieb es dort nicht, wegen Beleidigungen und „Stinkefinger“-Zeigen musste die Polizei einschreiten.

Studien belegen die zunehmende Aggressivität

Die Entgleisung ist kein Einzelfall. Alltäglich kommt es im deutschen Straßenverkehr zu aggressivem Verhalten. Drängeln, rasen, abdrängen: Im Cockpit eines Autos verhalten sich manche Menschen wie im Wilden Westen. 

Dass es auf den Straßen immer rücksichtsloser zugeht, belegt nun eine neue Studie der Unfallforschung der Versicherer (UDV). Bundesweit 2.000 Erwachsene wurden 2023 zur Sicherheit im Straßenverkehr befragt. Rund die Hälfte gab an, sich zumindest gelegentlich „abreagieren“ zu müssen, wenn sie sich geärgert haben. 2016 lag dieser Wert nur knapp halb so hoch.

Immerhin jeder fünfte Autofahrer räumt die Überholspur schon einmal mit der Lichthupe frei – auch hier betrug der Vergleichswert von 2016 nur rund die Hälfte. Und: Fast ein Drittel der Leute am Steuer tritt gelegentlich aufs Gaspedal, wenn sie überholt werden. Jemanden nicht einscheren zu lassen, ist eine Nötigung und erfüllt den Straftatbestand.

Gefährdet sind vor allem schwächere Verkehrsteilnehmer

Vor diesem Hintergrund ist es besorgniserregend, dass die Zahl der Toten und Verletzten bei Verkehrsunfällen 2022 wieder deutlich gestiegen ist. Sie lag aber weiter unter dem Niveau der Vor-Corona-Zeit – vermutlich auch deshalb, weil weiterhin viele regelmäßig im Homeoffice arbeiten.

Die Ergebnisse der UDV-Studie sind zudem insbesondere für schwächere Verkehrsteilnehmer alarmierend, hat man es doch im Alltag mit vielen Tonnen Blech zu tun, die sich mit hoher Geschwindigkeit fortbewegen. Zwar gibt es in den Städten auch Radfahrer, die sich durch den Verkehr schlängeln, wie es ihnen passt. So gaben viele in der Befragung an, statt des korrekten rechten Radwegs auch mal den linken (entgegen der Fahrtrichtung) zu wählen, ums schneller ans Ziel zu kommen. Rote Ampeln missachten Radfahrende ähnlich häufig wie Autofahrer.

Die meisten Vergehen bleiben ungestraft

Doch am Steuer eines Pkw oder Lkw wird aggressives Verhalten besonders gefährlich. „Aus Ärger oder zum eigenen Vorteil die Verletzung oder gar den Tod anderer in Kauf zu nehmen, ist vollkommen inakzeptabel“, unterstreicht UDV-Leiterin Kirstin Zeidler. Die Polizei sei jedoch überfordert und ahnde die meisten Vergehen nicht. 

Ein Beispiel sind Geschwindigkeitsübertretungen: Zwar drohen Rasern seit der Bußgeldreform im Jahr 2021 schärfere Sanktionen. Doch Untersuchungen zeigen, dass sich viele Kraftfahrer von höheren Bußgeldern nicht beeindrucken lassen, weil vielerorts schlicht zu wenig kontrolliert wird.

Konsequente Kontrollen zeigen Wirkung

Denn Autofahrer verknüpfen die Höhe von Geldbußen mit der Entdeckungswahrscheinlichkeit: Wenn das Risiko gering ist, werden mögliche (auch höhere) Bußgelder quasi eingepreist und Verkehrsregeln missachtet. Punktuell aufgestellte Blitzer zeigten in Untersuchungen deshalb wenig Erfolg. Ganz andere Effekte haben flächendeckende Geschwindigkeitskontrollen. So erhöhte etwa die Stadt Hamburg den Kontrolldruck mit der Anschaffung von 20 mobilen Messanhängern deutlich.

Auch die Autos werden zur Gefahr

Ein Problem ist auch, dass die Autos selbst gefährlicher werden – mit immer mehr Leistung und noch mehr Gewicht. Gerade leise Elektroautos kommen heutzutage auf irre Beschleunigungswerte. Diese Gefahr werde von vielen gerade älteren Fußgängern unterschätzt, sagt der Kasseler Verkehrswissenschaftler Helmut Holzapfel. „Das geht einfach nicht, was da an Leistung auf die Straßen gebracht wird.“ Die Beschleunigung von Elektroautos müsse daher dringend limitiert werden, wenigstens im städtischen Bereich.

Schuld sind meist die anderen

Wie lässt sich nun ein besseres Miteinander im Straßenverkehr erreichen? Hier steht die Gesellschaft vor einer Herausforderung: Zwar werten die meisten Verkehrsteilnehmer Aggression als großes Problem. Offenbar fehlt aber das Bewusstsein, dass man selbst dazu beiträgt. 

So unterscheiden sich Selbst- und Fremdbild der Befragten dramatisch. 96 Prozent aller Autofahrer gaben in der UDV-Studie an, Radfahrer mit ausreichendem Abstand zu überholen. Gleichzeitig nehmen sie aber bei 93 Prozent der anderen Autofahrer wahr, dass diese zu eng überholen.

Radfahrer sind bezüglich ihres Selbstbildes nicht besser: Knapp die Hälfte gibt zu, gelegentlich auf den Gehweg auszuweichen, beobachtet dieses Verhalten aber bei 92 Prozent der anderen Radfahrer.

Viele befürworten strengere Regeln

Dabei wünschen sich viele Bürger grundsätzlich Verbesserungen bei der Verkehrssicherheit. Eine Null-Promille-Grenze für alle Kraftfahrer befürworteten 68 Prozent der Befragten. Mit einem Tempo-Limit von 130 km/h auf Autobahnen könnten sich 53 Prozent anfreunden, mit Tempo 30 in Städten 41 Prozent.

Auffällig ist, dass bei Frauen der Wunsch nach mehr Verkehrssicherheit deutlich ausgeprägter als bei Männern.

Mehr Kontrollen und wirkungsvolle Konzepte würden helfen

Was also tun? „Ein Patentrezept für mehr Verkehrssicherheit gibt es aus meiner Sicht nicht“, sagt UDV-Leiterin Kirstin Zeidler. So lange etwa bei Geschwindigkeitsübertretungen die Entdeckungswahrscheinlichkeit gering bleibe, blieben höhere Bußgelder ohne große Wirkung. Es brauche insgesamt mehr polizeiliche Maßnahmen, um die Straßenverkehrsordnung so gut es geht durchzusetzen.

Aber auch Verkehrsplaner und -psychologen seien gefordert, schlagkräftige Konzepte für ein besseres Miteinander im Straßenverkehr zu entwickeln.

Individuelle Verhaltensänderungen nötig

Und schließlich ist jeder einzelne gefragt, sein mitunter egoistisches Verhalten zu hinterfragen. „Letztlich ist unsere Mobilität nur ein Teilsystem der Gesellschaft“, so Kirstin Zeidler. Und in dieser verändere sich das Klima insgesamt hin zu aggressiverem Verhalten. „Diese Entwicklung macht vor dem Straßenverkehr nicht halt.“

Mitunter helfen aber schon etwas Humor und Gelassenheit, die ein oder andere stressige Situation zu entspannen. So zeigte eine internationale Studie, dass Autofahrer ihre Fahrt mehr genießen, wenn sie gut gelaunt und entspannt sind. Wer schlecht schläft, unter Zeitdruck ist oder zu wenig Wasser trinkt, ist dagegen abgelenkter und weniger effizient unterwegs, zeigte die Studie der Universität London im Auftrag von Shell. Auch negative Gemütszustände wie Wut, Angst oder Trauer führen danach zu mehr Stress beim Autofahren.

Über die Gründe für die zunehmende Aggressivität im Straßenverkehr und was dagegen hilft, haben wir mit Dr. Thomas Wagner, Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Verkehrspsychologie, gesprochen.

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