26.07.2023

Weibliche Crashtest-Dummys

Zum Testen der Fahrzeugsicherheit werden auch heute noch in erster Linie Crashtest-Dummys verwendet, die auf Körpermaßen von Männern basieren. Warum gibt es dazu kein weibliches Pendant?

Crashtest-Dummys wurden ursprünglich zum Schutz männlicher Piloten der US-Luftwaffe gebaut. Weibliche Piloten? Damals Fehlanzeige. Auch im Auto saßen zu dieser Zeit vor allem Männer am Steuer – und normentechnisch bleiben sie bis heute das Maß aller Dinge.

Die Crashtest-Dummy-Familie

Der sogenannte 50-Perzentil-Mann repräsentiert mit einer Körpergröße
von 1,75 m und 77,7 kg den Median aller Männer aus den 70er-Jahren der USA. Das bedeutet: Die eine Hälfte der Männer ist kleiner, die andere Hälfte ist größer. Auf diesen Maßen basiert der heute weltweit
am meisten verbreitete Dummy „Hybrid III 50th“.

Immerhin gibt es seit den 70er-Jahren auch eine Crashtest-Familie. Neben dem 50-Perzentil-Mann gibt es noch die 5-Perzentil-Frau und den 95-Perzentil-Mann. Zudem gibt es auch spezielle Kinder-Dummys.

Die 5-Perzentil-Frau mit den Maßen von 1,51 m und einem Gewicht von 49 kg ist aber kein Pendant zum 50-Perzentil-Mann. Sie versucht nicht, eine Art Mittelwert zu repräsentieren, sondern dient wie der 95-Perzentil-Mann dazu, zumindest die extremsten Unterschiede zu berücksichtigen. So sind nur 5 Prozent aller Frauen noch kleiner als die 5-Perzentil-Frau und nur noch 5 Prozent aller Männer größer als der 95-Perzentil-Mann.

Was sind Perzentile?

In der Anthropometrie, der Lehre von den Maßverhältnissen des menschlichen Körpers, ist das Perzentil der Maßstab zur ergonomischen Gestaltung. Ein Perzentil bezeichnet den sogenannten Prozentrang zur Aufteilung einer Größe in 100 gleiche
Teile. So wird z. B. die Höhe einer Tür so gestaltet, dass sie vom 5. Perzentil bis zum 95. Perzentil aller Menschen gut benutzbar ist. Dasselbe Prinzip wird bei der Gestaltung von Normen für Crashtest-Dummys angewendet.

Ungleichheit bei den gesetzlichen Vorschriften

Die Fahrzeugsicherheit in Europa ist über die sogenannte General Safety Regulation GSR – eine „Allgemeine Sicherheitsverordnung“
– gesetzlich geregelt. Konkret sind in der UN-Regelung 137 der Europäischen Wirtschaftskommission UNECE, die für die Festlegung von Normen zuständig ist, Tests mit dem 50-Perzentil-Mann und der 5-Perzentil-Frau vorgeschrieben. Was fehlt, ist die 50-Perzentil-Frau.

Darüber hat sich auch Astrid Linder gewundert. Sie ist Professorin am Schwedischen Nationalen Straßen- und Transport-Forschungsinstitut. Im Rahmen eines EU-Projekts namens ADSEAT (Adaptive Seat), das die Verbesserung von Sitzen bei Heckaufprall vorantreiben soll, und in  Zusammenarbeit mit dem führenden Hersteller von Crashtest-Dummys Humanetics hat sie 2012 EvaRID entwickelt.

RID steht für Rear Impact Dummy. Ein weiblicher 50-Perzentil-Dummy für Heck-Auffahrunfälle, allerdings in rein virtueller Form. Als physischen Crashtest-Dummy in Serienproduktion gibt es ihn nicht. Zudem wurde EvaRID – wie im Übrigen jeder andere Dummy auch – für eine bestimmte Unfallart entwickelt, in diesem Fall zur Bewertung von Schleudertraumata.

Das liegt laut Thomas Kinsky, Leiter der Unternehmensentwicklung bei Humanetics Europe, vor allem an der mangelnden Nachfrage des Marktes, also der Autohersteller und der Testlabore. „Niemand
garantiert uns, dass wir einen weiblichen 50-Perzentil-Dummy wirklich verkaufen“, erklärt er. Zudem sei der Markt mit den gängigen Crashtest-Dummys gesättigt. Und die bereits im Markt vorhandenen Dummys würden so lange wie nur irgendwie möglich genutzt.

Crashtest-Dummys sind extrem teuer

Denn ein Crashtest-Dummy kostet Geld. Viel Geld. Ein einzelner kann je nach Anzahl der Sensoren und je nach Aufbau bis zu einer Million Euro kosten. So gibt es z. B. selbst vom derzeit weltweit am weitesten
verbreiteten Crashtest-Dummy Hybrid III 50th nur rund 1.000 Stück. Crashtest-Dummys sind ein rares Gut. 

Kein Wunder, dass Autohersteller lieber auf bereits vorhandene Ressourcen setzen. Zumal sie laut Norm bislang niemand zwingt, auch einen für den weiblichen Körperbau optimierten Crashtest-Dummy bei den Tests zu verwenden.

Darum zögern Politik und Unternehmen

Was aber hindert die Politik daran, ihre Normen zu ändern? Astrid Linder hat dazu in den vergangenen 20 Jahren immer wieder neue Erklärungen gehört. Es wäre zu teuer, zu kompliziert und zu aufwendig. Und es wäre fragwürdig, ob speziell für Frauen entwickelte Crashtest-
Dummys überhaupt eine Verbesserung erzielen würden. Für sie ist trotzdem klar: „Wir haben alles, was wir brauchen. Wir müssten es einfach nur machen.“

Wer sich in der Szene umhört, bekommt in der Tat eine Menge Gegenargumente präsentiert. Betrachtet man z. B. nur die tödlichen Unfälle, haben Frauen mit 24,1 Prozent laut der Online-Statistik-
Plattform Statista ein deutlich geringeres Risiko zu verunglücken
als Männer mit 75,9 Prozent. Insgesamt waren Ende 2019 49,3
Prozent der Bevölkerung männlich und 50,7 Prozent weiblich. Diesen Befund bestätigen Statistiken aus anderen Ländern. 

Zudem weist die Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt), ein technisch- wissenschaftliches Forschungsinstitut des Bundesministeriums für Digitales und Verkehr, darauf hin, dass es laut der aktuelleren internationalen Studien bei neueren Fahrzeugen (ab 2010 bzw. 2015) bei schweren und tödlichen Unfällen kaum mehr geschlechtsspezifische Unterschiede und damit keinen Gender Gap gibt. Problem also gelöst? Nicht ganz.

Frauen haben ein größeres Verletzungsrisiko

Laut vielen weiteren Studien und Untersuchungen ist das Risiko von Verletzungen für Frauen größer als für Männer. Das betrifft unter anderem die Verletzungen an Armen und Beinen, aber vor allem
auch das Risiko, bei einem Heckaufprall ein Schleudertrauma zu erleiden. Zumindest dieses erhöhte Schleudertrauma-Risiko wird von allen Experten anerkannt.

Umstrittener hingegen sind zumindest die Gründe, warum Frauen
häufiger verletzt sind. Lars Hannawald, Professor von der Hochschule für Technik und Wirtschaft in Dresden, gilt als Experte für Unfallforschung und Crashtest-Dummys. Er weist darauf hin, dass Frauen häufiger kleinere Autos mit einer geringeren Sicherheitsausstattung fahren als Männer und häufiger in der Stadt unterwegs wären. Beide Faktoren würden wohl eher die  Wahrscheinlichkeit eines Schleudertraumas begünstigen: Zudem sind Passagiere in kleinen Autos schlechter dagegen geschützt. „Ich kenne keine Untersuchung oder Studie, die das berücksichtigt“, sagt  Hannawald.

Und: Betrachtet man den aktuellen Bevölkerungsdurchschnitt der Frauen und Männer in Deutschland, so liegt der Durchschnitt der Frauen sogar näher am männlichen 50-Perzentil-Dummy als der Durchschnitt der Männer, denn beide Geschlechter würden immer größer. Es würden also weniger die Größe und das Gewicht, sondern viel mehr der Körperbau eine Rolle spielen. Dem stimmt auch Astrid Linder zu.

Das am meisten genannte Gegenargument aber ist, dass es unsicher sei, ob sich der Aufwand auch rechnen würde. „Die Entwicklung eines neuen Dummys ist sehr teurer, aufwendig und langwierig. Die notwendigen Validierungstests wie z. B. Schlitten- und Komponentenversuche sowie Fahrzeugtests, Untersuchungen
zu Wiederholbarkeit und Reproduzierbarkeit oder auch die Definition von Verletzungs-/Schutzkriterien können nur in internationalen Konsortien erfolgen. Insgesamt wird das 10 bis 20 Jahre dauern“, schreibt Dipl.-Ing. Bernd Lorenz, Referatsleiter für Passive Fahrzeugsicherheit und Biomechanik bei der Bundesanstalt für Straßenwesen BASt. Thomas Kinsky schätzt, dass die Kosten dafür mindestens im zweistelligen Millionenbereich liegen.

Die Forderungen nach einem weiblichen Crashtest-Dummy sind berechtigt

Astrid Linder hat diese Herausforderung angenommen. Als Beweis, wie einfach es wäre, hat sie ein weiteres von der EU gefördertes Projekt initiiert und gemeinsam mit Kollegen selbst eine physische
50-Perzentil-Frau namens VIVA+ für die Validierung von Fahrzeugsitzen beim Heckaufprall gebaut. Und diesen sogar dem für die Änderung der Gesetze zuständigen Komitee UNECE, der Wirtschaftskommission
für Europa der Vereinten Nationen, präsentiert. Passiert ist daraufhin noch nichts. 

„Wie viele Frauen müssen noch verletzt werden, bevor wir mit der Entwicklung starten?“, fragt Astrid Linder. Für sie gibt es nur einen einzigen Grund, warum bisher kein Standard-Dummy für die 50-Perzentil-Frau entwickelt wurde: „Es liegt an uns, an der Gesellschaft, diese Entwicklung einzufordern“, sagt sie. Die Industrie würde sich niemals von selbst dazu verpflichten, ist sie sich sicher. Thomas Kinsky stimmt ihr zu: Ein weiblicher 50-Perzentil-Dummy wäre – Stand heute – nicht betriebswirtschaftlich. Und jetzt?

Immerhin gibt es im Rahmen der für die Gesetzes-Entwicklung zuständigen UNECE erste Bemühungen, zumindest die Datenlage, auch bezüglich einer möglichen Gender-Thematik beim Seiten- und Frontaufprall, zu verbessern. Zudem beschäftigt sich eine informelle Arbeitsgruppe damit, die Entwicklungen für mehr  Gleichberechtigung beim Schutz von Passagieren zu evaluieren und voranzutreiben. Auch der EU-Verkehrsausschuss setzt sich dafür ein, dass bei Crashtests ein weiblicher Dummy gesetzlich vorgeschrieben  wird. Der ACE unterstützt dieses Anliegen.

Bis dahin bleibt nur zu hoffen, dass sich möglichst viele Verbraucherinnen und Verbraucher an der Diskussion beteiligen,
um eines Tages beim Autokauf fragen zu können: „Ist die Sicherheit
der Passagiere wirklich für die gesamte erwachsene Bevölkerung
getestet?“

Die Zukunft der Crashtest-Dummys

Crashtest-Dummys wurden urprünglich gebaut, um Leben zu retten. Erst in den späten 90er-Jahren wurden auch nicht-tödliche Verletzungen in Crashtests untersucht. Eine der führenden Organisationen für Crashtests ist Euro NCAP (European New Car Assessment Programme), eine Gesellschaft aus Versicherungsverbänden, europäischen Verkehrsministerien und Automobilclubs. Sie führt Crashtests für neue Automodelle durch und bewertet diese auf ihre Sicherheit. Alle Ergebnisse der NCAP-Crashtests sind online kostenlos abrufbar.

Unter Experten ist umstritten, wie sehr Crashtest-Dummys mit ihrer limitierten Sensorik dazu beitragen können, Verletzungen gezielt zu erfassen, um Verbesserungen durchzuführen.

Experten wie z. B. Bernd Lorenz von der BASt sind gegenüber der Entwicklung von weiblichen Crashtest-Dummys so zögerlich, weil bei Frauen lediglich ein höheres Verletzungsrisiko bei einem Heckaufprall als statistisch gesichert gilt. Die viel häufigeren Frontal- und Seitencrashs sowie andere Bevölkerungsgruppen wie Senioren oder übergewichtige Personen haben für die Forschung Priorität. So lässt ein Durchbruch bei den adaptiven Rückhaltesystemen (Sicherheitsgurt) darauf hoffen, dass sich Senioren bei Unfällen mit einer Geschwindigkeit unter 50 km/h nicht gleich eine Rippe brechen.

Eine echte Notwendigkeit, z. B. das anatomisch unterschiedlich gebaute weibliche Becken zu schützen, sieht Lorenz dagegen beim autonomen Fahren: In der liegenden Sitzposition wäre dieses möglicherweise speziell zu schützen. Die Ressourcen zur Entwicklung würde er gerne dafür aufwenden.

Virtuelle Crashtest-Dummys wie der beschriebene EvaRID sind (noch) keine Lösung. Um wirklich verlässlich Schlüsse für die Fahrzeugsicherheit aus einem Crashtest zu ziehen, braucht es zumindest für die nächsten zehn bis 20 Jahre weiterhin reale, physische Dummys. Darin sind sich alle Experten einig. Virtuelle Tests können bislang durch beliebig wiederholbare Simulationen „nur“ dazu beitragen, die Entwicklung physischer Crashtest-Dummys effizienter und effektiver zu gestalten.